Hannes Enzlberger - Heiße Nächte

Der Wiener Kontrabassist
Hannes Enzlberger
interessiert sich nicht
für Tangos.

Von Stefan Arndt

Abhauen per Bass

Trotzdem hat er eine ganze CD damit gefüllt. Schuld sind Carla Bley und die unbändige Lust am künstlerischen Drahtseilakt. Doch mit seiner fantastischen Musik erweist sich das »Wunderkind« der kreativen Szene Österreichs als absolut absturzsicher.

Sein Instrument war für Hannes Enzlberger das Tor zur Welt. »Zum Kontrabass stieß ich mit 15 Jahren.
Vorher hatte ich die Gitarre meines älteren Bruders bearbeitet und kam nun über einen ortsansässigen Kulturverein mit Jazz in Berührung.
Dort hörte und sah ich erstmals Kontrabässe. Es war dann nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die Gitarre, die ich als ausgesprochen ödes Instrument empfand, an den Nagel hängte und meine Eltern davon überzeugte, dass ich einen Kontrabass samt dazugehöriger Ausbildung benötigte. Ich fand einen außergewöhnlichen Lehrer: Josef Nemeth war in erster Linie Maler, hatte aber seinen Lebensunterhalt als Jazz-Bassist verdient. Er unterrichtete nicht in der Musikschule, sondern in seinem Atelier. Der Unterricht konnte durchaus auch aus Vorträgen zu zeitgenössischer Malerei bestehen oder aus Gesprächen mit den anderen Künstlern, die sich im Atelier die Klinke in die Hand gaben. Ich entdeckte, dass es außer meiner Welt einem klassischen Arbeiterhaushalt, wo die Mädchen in die Handelsschule und die Burschen in eine technische Ausbildung geschickt wurden noch eine ganz andere, unglaublich interessante Welt gab. Und dort wollte ich hin.«

Durch besessenes Üben stand nach einer Ausbildung zum Maschinenbauingenieur dem Musikstudium nichts mehr entgegen: In Wien studierte Enzlberger klassischen Kontrabass und spielte in verschiedenen Orchestern in Wien und Umland. Heute hat er ein gespaltenes Verhältnis zu seiner Arbeit als klassisch orientierter Musiker: »Bis vor zwei Jahren war ich hauptsächlich im klassischen Bereich tätig. Dann habe ich aber festgestellt, dass ich dort nicht wirklich hingehöre. Man könnte also meine Entscheidung, klassischen Kontrabass zu studieren, als Fehlentscheidung betrachten. Tatsächlich ist es aber so, dass mir gerade diese Ausbildung - abgesehen von instrumententechnischen Fertigkeiten, die mir dabei vermittelt wurden - einen sehr klaren, großräumigen Blick auf Musik im Allgemeinen eröffnet hat. Den Großteil meiner Inspirationen beziehe ich aus der sogenannten E-Musik, und das klangliche Ziel meiner Arbeiten orientiert sich fast ausschließlich an Komponisten wie Bartok, Feldman, Ligeti, Perotin oder Schubert. Um diese Ergebnisse zu erreichen, bevorzuge ich allerdings die Improvisation, weil sie meines Erachtens die wesentlich
effizientere Methode ist. Immer wieder hatte ich bei Probenarbeiten mit zeitgenössischer Musik den Eindruck,
dass hier ein unglaublicher Aufwand betrieben wird, um schlussendlich zu dem gleichen Ergebnis zu kommen wie bei einer guten Improvisation.«

Als eine Art Schlüsselerlebnis für Enzlberger erwies sich die Beschäftigung mit der Musik von Carla Bley. »Zunächst faszinierte mich die völlige Eigenständigkeit ihrer Musik. Ich kenne nach wie vor keinen Musiker, der etwas Ähnliches fabriziert hat. Oft habe ich den Eindruck, sie hat verschiedenste Arten von Musik an sich ausprobiert, sich damit eingekreist, um immer näher an sich
selbst; an ihren Platz in der Musik heranzukommen. So ähnlich wie Max Frischs Gantenbein. der >Geschichten anprobiert, so wie Kleider<, Als ich in den 90er Jahren die Aufnahmen des Giuffre-Trios mit den ganz frühen Kompositionen Bleys hörte, machte ich mich sofort daran, mir Noten davon zu besorgen. Ich wollte diese Stücke unbedingt spielen, sie erschienen mir als idealer Ausgangspunkt für meine Improvisationen.«

Bei Bley fand Enzlberger auch den Anstoß für sein Tango-Projekt. Der »Reactionary Tango« von der Platte Social Studies. die er immer und immer wieder hörte, war Anregung für sein Stück »Heiße Nächte«, das er auf seiner ersten CO eingespielt hat.
»Bei den >Heißen Nächten< stand am Anfang die Idee. ein polytonales Stück zu schreiben, bei dem sich die Stimmen immer wieder sehr nahe kommen und kreuzen. Diese ziemLich kopflastige Konzeption wollte ich mit der Wahl des extrem emotional-bauchlastigen Tango-Klischees abrunden. Grundsätzlich interessiert mich die aktuelle Tango-Musik, vor allem das ganze Piazzolla-Zeugs, überhaupt nicht. Dass meine Wahl damals trotzdem auf Tangos fiel,
hat einfach damit zu tun, dass ich für meine Melodien eine möglichst einfache Basis brauchte. Ich hatte ja auch vorher, außer eben durch Bleys Stück, nichts mit Tango zu tun. Höchstens gab es eine Affinität zum Tango durch meine
Salonorchester-Jobs, wo eben auf Bällen etc. zu später Stunde >la Cumprasita< oder >La Paloma< gespielt wurde - durchaus zu meiner Freude.«

Orbitale Salons

Ihre Ur. und vermeintlich einzige Aufführung erlebten die »Heißen Nächte« in einem der »orbitalen Salons«, einer Konzertreihe, die Enzlberger eine Zeit lang in Wohnzimmern. Gärten oder sonstigen obskuren Räumen veranstaLtete.
»Zusammen mit meinem langjährigen Kompagnon, dem Saxofonisten Christian Kampichler, gründete ich den orbitalen Salon, um das Konzept >Verschiedene Musik unter einem Namen< verwirklichen zu können. Wir hatten es satt, uns monatelang um Termine für Gigs zu bemühen, für die es ohnehin keine Gage gab und bei der ein Großteil des Publikums etwas anderes hören wollte. Der orbitale Salon fand einmal im Monat statt, anfangs in unserem Proberaum, der Platz für zwölf Gäste bot. Alle Gäste mussten sich vorher anmelden, und es gab jedes Mal andere Musiker und ein neues Programm mit Stücken hauptsächlich aus meiner Feder - die bei diesem Termin aus der Taufe gehoben und danach in den Mistkübel geworfen wurden. Später wurden wir dann immer wieder von Stammgästen ins Wohnzimmer geladen, und so entstanden richtige Salonkonzerte. Das Wesentliche daran war, dass so ziemlich alles passieren konnte, solange es nur >orbitale Musik< war: Die Musik musste experimentellen Charakter besitzen und soviel künstlerisches Risiko wie möglich enthalten. Wir hatte uns somit ein optimales Experimentierfeld geschaffen.«

Der Name für die Konzertreihe war an die Band angelehnt, in der Enzlberger die ersten Schritte in der freien Improvisation machte. »Christian Kampichler hatte ein Projekt namens >Orbits<. Ich wurde 1987 bei einer Session aufgegabelt und ging zu unserem ersten Treffen, ohne eine Ahnung zu haben, was hier abgehen sollte. Im Proberaum traf ich dann Kampichler, den Schlagzeuger Stefan Holzreiter und die Sängerin Ursula Slavicek. Alle vier hatten wir bis dahin hauptsächlich Standards gespielt und starteten nun den Versuch, Free Jazz zu machen. Die Stimme wurde dabei wie ein normales Instument behandelt es gab keinerlei Texte. Das erste Stück, das wir probierten. war >Four Winds< von Dave Holland. Ich erinnere mich
noch sehr gut daran, wie ich gegen Ende des Themas die Panik bekam, was ich denn dann in der Improvisation iiadiesJ sollte - auf dem Notenblatt befanden sich keine Chords, nur die lapidare Anweisung >to free solos<. Wir erkundeten dieses neue Terrain mit Stücken von Ornette Coleman und Eric Dolphy, und langsam entwickelten wir eine ganz passable eigene Sprache. Der Name >orbits< hatte übrigens nie etwas mit spacigen Sounds zu tun, sondern ist der Titel eines Stückes von Wayne Shorter, das wir damals im Programm hatten.«

Noch nicht ausgewalzt

Doch alle orbitale Tätigkeit war nur Freizeitvergnügen. 1996 trat Enzlberger eine Stelle im Stadttheater Baden (bei Wien) an, und kurz darauf wurde sein musikalischer Weggefährte Kampichler Biologe in München. Für den Griff nach den Sternen blieb keine Zeit mehr. Den dafür gewonnen Orchesterdienst aber empfand Enzlberger als sehr beengend und als Zwang statt als Möglichkeit, sich als Musiker zu entfalten. Die Krise, die daraus resultierte, brachte zugleich den Durchbruch: »Im Herbst 2000 war ich derartig am Boden, dass ich beschloss, mein Musikerdasein zu beenden. Ich suchte einen Job, und nach einigen Absagen kam ich bei einer Unternehmensberatung unter. Da ich nun endlich keinen wirtschaftlichen Zwang mehr hatte, Musik zu machen, ging ich wieder auf Sessions, nur um zuzuhören. Dabei stieß ich auf den Flügelhornisten Thomas Berghammer, der mir außerordentlich gefiel. Ich kramte in der Schublade, fand mein Tangoprogramm von 1993 und beschloss, mich selbst zu beschenken, indem ich dieses Programm mit Thomas Berghammer in einem Studio einmal ordentlich aufnehme. Otto Lechner, der schon damals dabei war, erklärte sich auch bereit, und so spielten wir im Februar 2001 die Tangos ein, ganz locker, in nicht einmal vier Stunden. Der Tontechniker war darauf mit anderen Dingen beschäftigt. und so bekam ich den Rohmix erst im April zu hören. Ich staunte nicht
schlecht, was wir da fabriziert hatten - es klang herrlich. Ich begann darüber nachzudenken, die CD einer Plattenfirma anzubieten. Oskar Aichinger, mit dem ich damals ein paar Sessions gespielt hatte, bestärkte mich, Franz Koglmann ein Exemplar zu schicken. Drei Tage, nachdem ich die CDs verschickt hatte, rief Koglmann an, erklärte mir, dass er die CD unbedingt für >between the lines< haben wollte und dass ich aber bitte schön! - für das Festival der Wiener Musikgalerie im Oktober ein Programm abliefern sollte, das dann, sofern alles passt, ebenfalls bei btl erscheinen soll.«

Tatsächlich erschien dieses Programm sogar zuerst unter dem Titel »Songs to Everything That Moves« (btl/EFA). Und auch Nachfolgeprojekte für die heißkalten Tänze hat Enzlberger schon anvisiert. »Zur Zeit arbeite ich in mehreren Richtungen: Da gibt es gemeinsam mit Josef Novotny die Elektronik-Abteilung, die sehr stark an Sounds orientiert ist. Zum zweiten arbeite ich an meiner >Octoscope Music<, einem Projekt mit drei Trompetern, zwei Schlagzeugern und Kontrabass. Die Band agiert prinzipiell wie ein Trio, bei dem sich die Trompeten, die im Idealfall immer im Block spielen, nur bei Bedarf aufspalten. Die beiden Schlagzeuger sind ebenfalls dicht ineinander verschränkt und bilden zusammen mit dem Bass einen extrem dichten, nervösen Unterbau. Und drittens mache ich weiterhin meine kammermusikalischen Arbeiten. Konkret arbeite ich an einem Programm über Musik von Franz Lehar. Ich habe mich bereits 1993 bei einem Salon intensiv mit der Operetten Literatur der sogenannten silbernen Ära, also Kalman, Lehar usw. auseinandergesetzt. Lehar hat für mich eine sehr große Bedeutung. Mein erstes fixes Orchesterengagement hatte ich beim Franz-Lehar-Orchester im Sommer 1990, das die alljährlichen Operettenfestspiele und Kurkonzerte in Bad Ischl bestritt. Ich litt fürchterlich, aber das Schlimmste an der Sache war, dass mich lehar’s Musik über weite Strecken sehr berührte, ich das aber weder mir gegenüber und schon gar nicht nach außen hin zugeben konnte. In den folgenden Jahren verdiente ich einen Großteil meines Lebensunterhaltes mit Walzermusik. Das heißt, ich kenne diese Musik in- und auswendig, wesentlich besser jedenfalls als die Lieder des great american songbook.«

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INTERVIEW musiconmusic
"Ich nehme mich als Komponist gerne zurück" ( ( ( ( ( (
Klaus Peham im Gespräch mit dem
Wiener Komponisten/Kontrabassisten Hannes Enzlberger
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Klaus Peham: Herr Enzlberger, Sie widmen sich bei Ihrem MUSICONMUSIC
Projekt ganz dem Werk von Carly Bley. Im Jazz gilt es als gute Tradition, aus dem kanonisierten Materialpool der Altvorderen zu schöpfen, Standards neu zu lesen oder diese als Improvisations Vorlagen abzuarbeiten.
Ich kann mir vorstellen, dass vieles von Bleys CEuvre allein schon wegen seiner polystilistischen, synkretistischen Ausfächerungen und der oft regietheaterartigen Dezidiertheit und Aufgeladenheit - im Gegensatz zu den entkontextualisierten, "neutralisierten" Jazz-Standards - sich einem manipulatorischen Akt widersetzt Welchen gestalterischen Zugang in das oft sehr unübersichtliche Terrain Bleyscher Musik haben Sie gewählt?
Hannes Enzlberger: Die eine Formel gibt es bei mir nicht. Aber als roten Faden, an dem entlang ich mein Konzertprogramm entwickle, habe ich meine ganz persönliche Rezeptionsgeschichte Bleyscher Musik vor mir ausgerollt. Ihre Musik hat mich mein halbes Leben - in einer Wellen Bewegung von Nähe und Distanz begleitet und beschäftigt. Es sind nicht so sehr konkrete Techniken, sondern eine bestimmte Grundhaltung, die mich an Bley interessiert. Was mich anzieht, ist, dass ihre Musik nicht wirklich Jazz ist - im herkömmlichen Sinn gesprochen. Natürlich, irgendwie ist es eine Art von Jazz - aber nicht in diesen engen Grenzen und mit diesem Regelwerk an Konventionen, nach dem da vieles funktioniert. Da ich selbst in diese Jazzkreise nie so richtig hineingewachsen bin, ist mir ihre "Escalator over the Hill" Musik sehr entgegengekommen: keine fixen Ensembles; Musiker aus einer Vielzahl stilistischer Domänen; der Eklektizismus, was Formen, Stile und Instrumentierung betrifft. Man merkt, vieles wurde einfach ganz frech ausprobiert, alles klingt sehr frisch. Vor allem Bleys Respektlosigkeit gegenüber Konventionen ist für mich zeitlos aktuell, obwohl sie natürlich wie wir alle aus der Geschichte schöpft. ( ( ( (
1918 gründete Schönberg in Wien den Verein für musikalische Privataufführungen. Carla Bley war 1964 in New York Mitinitiatorin der Jazz Composers' Guild, aus der das Jazz Composers' Orchestra und später das Plattenlabel Watt hervorgegangen sind - Ziel war es, unabhängig von einem verkrusteten Musikbetrieb adäquate Arbeits-, Aufführungs- und Distributionsbedingungen zu schaffen. 1992 gründeten Sie gemeinsam mit einer Hand voll anderer Musiker den Orbitalen Salon - eine kooperativ betriebene Non-profit-Organisation zur Uraufführung von Stücken ihrer Mitglieder und der Pflege von entlegenen Repertoire-Nischen.
Parallelen? ( ( ( ( ( (
Nicht wirklich. Was Schönberg betrifft, schien uns der Anspruch seines Zirkels zu elitär - wir wollten uns ja nicht in einer Art Sendungsbewusstsein als "Schule" oder kulturpolitisch relevante Instanz etablieren.
Die Tangente zu Bley war mir lange nicht bewusst, aber von der Motivlage her wohl nicht ganz zufällig. Stossrichtung des Orbitalen Salons war ja, eingeschliffene Ensemblestrukturen und Produktionsweisen aufzubrechen - und dies zudem völlig unbeeinflusst vom eventuellen Wohlwollen eines Veranstalters. In Form eines Jour fixe luden wir Gastmusiker und Freunde, die mehr an einer echten Auseinandersetzung mit Musik als am Event und an Getränken interessiert waren, zu Konzerten in Proberäumen, Wohnzimmern und Ateliers. Wir erarbeiteten thematisch fokussierte Konzertprogramme und schmissen dann nach einer einmaligen Aufführung das Material wieder weg. Das garantierte eine gewisse Frische und - nicht nur fürs Publikum, sondern auch für die Musiker - eine Art Überraschungseffekt; man konnte ja nie wirklich auf die Sicherheit des bereits Abgetesteten reflektieren.
Es war im eigentlichen Wortsinn unkonventionell: Durch die Aufführungspraxis, Stücke nur ein einziges Mal zu spielen, war vorgesorgt, dass sich nicht allzu schnell Konventionen - egal ob beim Komponieren, Improvisieren oder in der Interpretationspraxis - einnisteten. ( ( ( ( ( (
Sie haben "Escalator over the Hill", das - für seine Zeit nicht nur dem Umfang nach - monströse, opernhafte Großwerk von 1972, als für Ihre Jazzbiographie prägend bezeichnet. Ich nehme an, Sie werden in Ihrem Programm darauf Bezug nehmen. ( ( ( ( ( (
"Escalator" ist eine Art zentrale Achse des Programms, um die sich die anderen Stücke gruppieren. Melodiefetzen, aber auch komplett transkribierte Teile, die ich daraus verwendet habe, wurden mehreren "klassischen" Verarbeitungszyklen - wie Zerlegung, Spiegel, Krebs oder Augmentation - unterzogen und dann collagenartig aneinandergefügt. Aber
am Beginn meiner Bley-Liebe stand die Platte "Social Studies", davon im Besonderen der "Reactionary Tango" - erst viel später habe ich bemerkt, dass ein Tango, den ich in der Folge geschrieben hatte, stark davon beeinflusst war; diesen habe ich über die Jahre mehrfach umgemodelt und nun für die aktuelle Besetzung eingerichtet.
Ein völlig neuer Aspekt der Bleyschen Musik erschloss sich mir durch Aufnahmen des Jimmy-Giuffre- Trios der frühen Sechziger, auf denen sich einige Bley- Titel finden. Meine Komposition "Losn" ist eine Reminiszenz an diese sperrigen, abstrakten Bley-Stücke: Die Idee dabei war eine Abstraktion von Jazzfloskeln, indem ich diese vertikal verzerrt und in ein fremdes harmonisches Umfeld gesetzt habe. Dann gibt's da noch dieses alte bizarre Free-Jazz-Stück "Batterie": Es war in einem dieser "Real Books" abgedruckt - jeder Musiker, so auch ich, hat das meistens überblättert;
wir hatten vor diesem Ding einen ziemlichen Respekt - es ist sehr schnell, die Linienführung extrem angular. Nun nutze ich die Gelegenheit, dieses Stück anzugehen. Dazu habe ich eine Art musikalische Sturmrampe konstruiert, über die dann schließlich das "Batterie"-Thema "erobert" wird. Es ist übrigens die einzige Stelle im Programm, wo Bley-Material original zu hören ist. Einmal abgesehen von den hier skizzierten Beispielen an konkreten verarbeitungstechnischen Zugriffen, habe ich versucht, eine Art kompositorischer Inseln - also Geländeformen mit einem festen Aggregatszustand - in eine musikalische Wasserfläche, wo alles verflüssigt, offen und frei vorliegt, hineinzusetzen; zudem sind auch befestigte, aber mobile Landbrücken zum Hin- und Herwechseln vorgesehen. Ähnlich wie Miles Davis in den Sechziger- und Siebzigerjahren stelle ich mir vor, dass die Musiker einen offenen Zugriff auf das vorstrukturierte Material haben sollen. Mithilfe einer von mir mitkomponierten Palette navigationswirksamer Signalmotive können sich die Musiker relativ frei und ungezwungen im musikalischen Terrain bewegen, sich organisieren und das Stück steuern. Die Improvisationsvorgaben sollten dabei nicht allzu komplex geraten, da sonst die Gefahr groß ist, dass die solistischen Kapazitäten des Improvisators zu stark gebunden werden und er sich auf Klischees zurückzieht - jeder soll seine eigene vitale Sprache sprechen können und nicht auf erstarrte Floskeln zurückgreifen. ( ( ( ( ( (
Individualität und Eigeninitiative ist Ihnen bei der Wahl Ihrer Musiker wichtig; zudem sehen Sie in Ihren Kompositionen offene Formen und mobile Strukturen vor. Besteht da nicht die Gefahr, dass alles in alle Richtungen auseinanderfliegt? ( ( ( ( ( (
Meine einfache - und zugleich die effizienteste - Vorkehrung dagegen: die Auswahl der Musiker, also nur mit Leuten zu arbeiten, wo gewisse Dinge, die ich nicht haben will, gar nicht erst passieren; Musiker, die zudem schnell erfassen, worum es geht. Andererseits nehme ich mich als Komponist auch gerne zurück: Wenn ich merke, etwas engt zu stark ein, streiche ich es weg. Nur so viel zu verschriften, dass in der Arbeitssituation gerade noch verstanden wird, worum es geht, das macht Sinn - alles andere ist bloß Ballast. Mir geht es weniger um kompositorisches Powerplay, sondern - so trivial es klingt - einfach um "gute Musik", um diese Momente der kleinen und großen "Wunder". Der kompositorische Anteil ist nur eines der möglichen Vehikel dazu;
die breite Palette ausdifferenzierter improvisatorischer Zugänge ein anderes. Letztlich ist es doch völlig egal, ob Reihen verarbeitet werden oder etwas kunstvoll nach den Regeln des Kontrapunkts gearbeitet ist. Das alles ist doch allein auf einer arbeitstechnischen Ebene der Werkzeugnutzung relevant. Mir ist doch auch wurscht, mit welchem Werkzeug mir der Installateur die Heizung baut - am Ende will ich ja doch nur, dass sie funktioniert.

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